top of page

Das Land der 4000 Inseln


Day 151 Am 151. Tag meiner Reise bin ich am 59. Ort angekommen. Dieses Mal ist das Ankommen ein fast schon eigenartiges Gefühl, weil ich nicht wie bis anhin nach zwei oder drei Nächten, sondern erst in drei oder vier Wochen weiterziehen werde. (Denn da war doch noch was ... ich muss jetzt endlich mal an meinem Krimi schreiben! :-) ) In meiner Erzählung indes bin ich noch nicht hier angelangt, ich hinke mit den Worten der Zeit hinterher. Die letzten Sätze meiner letzten Reisegedanken sind in Vietnam hängen geblieben. Konkret: In Hanoi.

Reisen bringt es manchmal mit sich, dass man sich zu Unzeiten aus dem Bett stemmt.

Sei es, um einen Sonnenaufgang nicht zu verpassen (habe ich schon erwähnt, dass ich morgens um halb fünf steifgefroren am Rande des Grand Canyons gesessen bin und auf die Sonne gewartet habe, die einfach nicht kommen und nicht kommen und nicht kommen wollte? Bis irgendwann der (berechtigte) Verdacht anklopfte, dass ich einmal mehr unbemerkt die Zeitzone gewechselt habe und eine Stunde zu früh aus Schlafsack und Zelt gekrochen bin...?)

Sei es, um früh morgens die laotischen Mönche bei ihrer Bettelrunde zu beobachten (oder, eher: Um die laotischen Mönche beobachten zu wollen ... ich stand zwar um halb sechs mit der Kamera zum Abmarsch bereit – allein; das Tor der Pension war mit einem fetten Schloss verriegelt und ich war eingesperrt. Da weit und breit kein Mensch schon wach war, der mich hätte in Freiheit entlassen können, ging ich schliesslich auch wieder schlafen.)

Oder sei es, weil man einen arg frühen Bus oder Flug oder Zug erwischen muss. Wie an meinem letzten Morgen in Hanoi. Es ist kurz vor sechs Uhr früh, als ich mich endgültig in diese chaotische Stadt verliebe. Die Luft ist leicht und kühl, der hup-freudige Massenverkehr noch etwas verschlafen. Dafür sind die Menschen hüpf-freudig und munter. Morgens um sechs ist die ganze Stadt in Bewegung: Sie hüpft, sie turnt, sie schwingt, sie wippt. Die Menschen im Park, auf dem Trottoir, im Hauseingang, an jeder Strassenecke schwingen Arme und Beine, bewegen sich langsam oder schnell, rhythmisch mit der lauten Musik oder völlig aus dem Takt geraten, vom Kind bis zum Ururgrossvater – keiner steht still. Die Stadt tanzt sich wach. Und so wippe auch ich – ein Rucksack am Rücken, einer am Bauch – der Bushaltestelle entgegen. Good morning, Vietnam. Und auf ein nächstes Mal.

Für jedes Ankommen zahlt man den Preis eines Abschieds. Wer unterwegs ist, muss loslassen können, auch wenn er nicht weiss, ob das, was ihn erwartet, den Abschied wert war. Aber allein der Reiz, genau dies herauszufinden, macht das Reisen erst spannend.

So lande ich in Luang Prabang. Dabei stand Laos gar nicht auf meinem Reiseprogramm, Laos war nicht mehr als eine Option. Doch wie so oft zeigt sich: Sind die Erwartungen bescheiden, bleibt mehr Raum für Freude und Erstaunen und Begeisterung. Bereits das Ankommen in Luang Prabang ist von der ersten Minute an ein Sich-Wohlfühlen – mit den Menschen, mit der Stimmung, mit den Düften, dem Licht, dem Tempo. Ja, mit dem Tempo: Nach dem hektischen Vietnam wirkt Laos auf den ersten Blick entspannt. Auf den zweiten Blick wird sich herausstellen, dass «tiefenentspannt» der bessere Ausdruck ist: Alles in Laos ist langsam. Alles. Es scheint, die Zeit habe hier eine andere Bedeutung. Sie ist zähflüssig, ruhig und träge. Es gibt in Asien, wie ich später erfahre, ein Sprichwort, das grob übersetzt so lautet: In Kambodscha pflanzen sie den Reis, in Vietnam verkaufen sie ihn und in Laos hören sie zu wie er wächst. Laos liebster Seelenzustand ist allergrösste Gelassenheit – und das Wunderbare daran ist: Die laotische Tiefenentspannung ist total ansteckend.

Das Erste, das mir auffällt, ist, dass trotz des typisch asiatischen Chaos’ auf der Strasse in Laos keiner hupt. Ganz anders als gleich nebenan in Vietnam, wo das Hupen ein stetiger Klangteppich ist. (Als ich wenig später auf einem gemieteten Scooter sitze, höre ich dann tatsächlich doch jemanden hupen – und stelle beschämt fest, dass ich es bin! Da steckt wohl noch ein bisschen vietnamesische Gewohnheit in mir drin, die sich aber schnell verflüchtigt.)

Luang Prabang verdient als Beschreibung das Wort «zauberhaft», weil das Städtchen einen tatsächlich verzaubert. Da sind die vielen andächtigen Buddhas, die den Weg zum Tempel auf dem Steinfelsen mitten in der Stadt säumen. Da sind die goldenen Tempel, mit Hunderten Bildern und Schnörkel an der Fassade und mit fauchenden Drachen als Treppengeländer. Da sind die Restaurants am Ufer des Mekongs, in denen man sich in die Kolonialzeiten zurückversetzt fühlt. Da ist der lebendige Nachtmarkt, der in allen Farben leuchtet. Und da sind ausserhalb der Stadt die zahlreichen eisstahlblauen Wasserfälle, die so adrett platziert sind, als hätte ein begnadeter Gartenarchitekt sie gestaltet. Ich radle mit dem Ein-Gang-Velo hin (was sich wegen der Hügel als anstrengender erweist als gedacht, woraufhin ich auf dem Rückweg beschämt Forfait erkläre und samt Velo in ein Tuktuk klettere...) und kann mich – weil man als Einzelperson kein Ticket kaufen kann – einer Gruppe von Südkoreanerinnen anschliessen, um mit dem Einbaum zu den Wasserfällen gefahren zu werden. Als ich ein Selfie von mir auf dem Kanu schiessen will, schiessen hinter mir reflexartig vier südkoreanische Frauenhände winkend in die Höhe. Abends finde ich mich mit einem Briten, einem Deutschen und zwei Ecuadorianern in einem lokalen Restaurant wieder, in dem bei jeder Bestellung die kleine, neunjährige Tochter als Übersetzerin fungiert. Weil sie die Einzige in der Familie ist, die englisch spricht. Und, wie mir scheint, als Einzige den Taschenrechner bedienen kann. Man mag sich über die abendliche Kinderarbeit beklagen – aber ich bin mir sicher, dass die Kleine es mal weit bringen wird.

Später, in Vang Vieng, sind es die spitzen, grünen Berge, die mich begeistern, hinter den Kornfeldern, welche die Bauern mit Kühen und Karren bearbeiten. Und die vielen Höhlen, gross wie Kathedralen, in denen zwischen den Felsbrocken goldene Buddhas liegen. In den Restaurants von Vang Vieng und auch andernorts in Laos nimmt man sich diese liegenden Buddhas zum Vorbild: Man sitzt nicht, man liegt am Tisch. Und man tut dies mit Blick auf Fluss und Berge. Nicht alle saugen die Aussicht so gierig ein wie ich. Nicht wenige liegen im vorderen Bereich der Restaurants, in denen die TV-Geräte hängen. Darauf läuft die Serie «Friends», mit laotischen Untertiteln und in einer Endlosschleife. Und zwar nicht nur in einem, sondern in jedem Restaurant. Und auch später auf der Insel Don Det. Ich frage mich, ob hier jemand mit Gratis-DVD-Kopien von «Friends» hausieren gegangen ist. Auf jeden Fall kommen Jennifer-Aniston-Fans in Laos total auf ihre Kosten.

Auch in der Hauptstadt Vientiane liegt ein riesiger Buddha. Hier werden ich und meine Tierliebe auf eine harte Probe gestellt. Wegen einer gemeinen, alten Vogelfängerin! Vor dem goldenen Tempel verkauft die alte Frau Spatzen; sie sind in Miniaturkäfigen gefangen, drei, vier, sechs Vögel stecken in den Kistchen, die zirka 15 mal 15 mal 15 Zentimeter klein sind . Sie deutet mir an, dass ich die Vögel freikaufen und sie fliegen lassen könne. Mein erster Gedanke ist; ich kaufe sie alle und lasse jeden Einzelnen frei, selbst wenn mich das ein kleines Vermögen kostet. Weil ihre Gefangenschaft nicht zu ertragen ist. Meine zweite Überlegung: Wenn ich die Vögel freikaufe, macht die Frau den Umsatz ihres Lebens und fängt danach noch viel mehr Vögel ein, weil das Geschäft mit den tierliebenden Touristinnen so gut funktioniert. Also lasse ich es schweren Herzens bleiben. Ohne Sprache, aber mit viel Gestik, versuche ich der alten Frau zu erklären, dass ich mit ihren Geschäftspraktiken überhaupt nicht einverstanden bin. Im Wissen, dass es die Armut ist, die sie zur Vogelfängerin gemacht hat. Nun, ich bin mir nicht ganz sicher, ob meine Botschaft angekommen ist.

Der Nachtbus mit Zweierschlafkojen, die eigentlich für einen Menschen schon zu klein und vor allem viel zu kurz sind (zum Glück ist die Person, mit der ich mir die meine teile, eine kleine Australierin und nicht ein grosser, dicker Mann...) bringt mich nach Pakse.

Hier muss ich einen Einschub machen. Einen Einschub, der sich um Toiletten dreht und, sie möge es mir verzeihen, um Natascha. Natascha und ihren Freund würde ich theoretisch bereits im Minibus von Vang Vieng nach Vientiane kennen lernen. Nur bin ich auf dieser Busfahrt nicht zurechnungsfähig: Ich habe einen Kater, mir ist schon schlecht, bevor ich einsteige, und der Fahrer fährt wie ein Henker über die kurvig-holprigen Schlangenstrassen – so dass ich mich voll und ganz darauf konzentrieren muss, mich nicht zu übergeben. Ich nehme von meiner Umgebung nichts wahr. Und darum lerne ich Natascha und ihren Freund, denen ich schon im Minibus aufgefallen war, erst im Nachtbus nach Pakse kennen, wo sie erneut meine Platznachbarn sind. Schon die ersten paar Worte, die Natascha und ich wechseln, drehen sich um – Klos. Natascha erzählt mir, dass sie Muskelkater vom Pinkeln hat (worüber ich mich ein bisschen wundere) und sie fragt mich, wie das eigentlich genau funktioniere, mit diesen Klos, die nicht richtige Stehklos aber auch keine Sitzklos sind. Und bald darauf lässt sie mich an ihren Horrorgeschichten über asiatische Toiletten teilhaben. Da wissen wir noch nicht, dass die nächste sogleich folgen wird.

Im Nachtbus hat es eine Toilette. Ein Loch in einer niedrigen Koje, umgeben von Rasenteppich, der nassgetränkt ist, weshalb es sich empfiehlt, für den Klogang die Schuhe anzuziehen, die man im Bus ausziehen musste. Immer, wenn jemand aus der oberen Etagen im Dunkeln zur Toilette hinunter steigt, erwache ich durch ein schmerzverkündendes Stöhnen: Im Mittelgang zwischen den engen Kojen liegen zwei Menschen und keiner der Toilettengänger schafft es, neben diesen vorbeizukommen, ohne in einen Magen oder auf einen Kopf zu treten. Aber immerhin können die Getretenen im Gegensatz zu uns die Beine strecken. Auf jeden Fall muss Natascha am frühen Morgen nach etwa acht Fahrstunden auf die Toilette. Nach einer gefühlten Ewigkeit kommt sie mit einem gequälten Gesichtsausdruck zurück. Ihr Kopfschütteln verrät; sie konnte nicht. Zu eklig. Kurz darauf versucht ihr Freund sein Glück, er kommt mit ebensolcher Miene zurück. (Falls sich jemand fragen sollte, warum ihr Freund namenlos bleibt: Das hat einen Grund. Er hat natürlich einen Namen, der ist der Verfasserin dieser Zeilen auch bekannt. Nur reist er sozusagen inkognito vier Monate lang durch Asien: Sein Chef meint, er befinde sich an einer Weiterbildung in der Schweiz) Nun; die beiden leiden. Obwohl wir alle extra wenig getrunken haben. Als wir nach zehn oder elf Stunden in Pakse aussteigen, hindert uns das schwere Gepäck nicht daran, im Galopp ins erstbeste Cafe und aufs – saubere! – Klo zu düsen. Was bin ich froh, dass ich eine starke und tapfere Blase habe. Natascha und ihr Freund, die sich zum ersten Mal als Backpacker versuchen und herausfinden, dass sie dafür nicht wirklich gemacht sind, begleiten mich bis nach Kambodscha, und ich werde mit ihnen viel später in Bangkok die eigenartigste Geburtstagsparty ever erleben, und auf Koh Samet von ihnen jene Magentabletten erhalten, die ich ihnen drei Wochen zuvor selbst mitgegeben hatte.

Schon nach ein paar Tagen schliessen Natascha und ich einen Deal: Sollte ich je ein Buch über das Reisen schreiben, wird sie in Kästchenform ihre Kommentare über die jeweiligen Zustände der Toiletten und ihre Erlebnisse mit eben diesen beisteuern. Auch, um ihre Traumata zu verarbeiten.

In Pakse erhalte ich zudem zum zweiten Mal auf meiner Reise Besuch: von meinem WG-Gschpändli! Doch bevor ich Simone nach langen Reisemonaten wiedersehe, muss ich vom Busbahnhof zum Hotel gelangen. Da ich in Vietnam autodidaktisch und äusserst erfolgreich das Töfffahren erlernt habe, entscheide ich mich voller Zuversicht, mich mit all meinem Gepäck nicht in ein gemütliches Tuktuk, sondern auf einen gemieteten Scooter zu setzen. Und mehr noch: weil jener mit Gangschaltung halb so teuer ist wie der Automatische, nehme ich wagemutig den Ersteren. Wobei ich anfügen muss: Ich bin noch nie in meinem Leben einen geschalteten Töff gefahren. Aber ich tue auf dieser Reise ja viele Dinge zum ersten Mal im Leben, nichts Neues also. Auf jeden Fall glaube ich, dass ich ein recht amüsantes Bild abgegeben haben muss: Hinten am Rücken der grosse Rucksack, der das Gleichgewicht doch ein wenig beeinträchtigt, zwischen den Beinen den kleinen – und jedes Mal wenn ich den Gang wechsle, schletzt es mich entweder nach hinten oder nach vorne, je nach dem, ob ich hinauf oder hinunter schalte. Aber: Ich schlage mich wacker, ich bleibe im Sitz, schlängle mich unelegant, unstet, rucklig, aber unfallfrei durch die Verkehrsmasse und wenig später werde ich auf Simone sogar einen derart souveränen Eindruck machen, dass sie sich ohne zu Zögern hinten auf meinen Scooter setzt. Wobei ich sie jedes Mal mit einem lauten Rufen warne, bevor ich den Gang wechsle, damit sie sich gut festhalten kann...

Wir ziehen weiter zu den 4000 Inseln und es ist eine Reise in eine andere Zeit: In die Vergangenheit. Das Häuschen mit Blick auf den Mekong kostet zehn Dollar die Nacht. Und im kleinen Dörfchen – dem einzigen auf der Insel Don Khon – finden wir (dank Natascha) den weltbesten Koch. Seine Küche steht draussen im Garten und ist etwa ein Meter auf zwei Meter gross. Gleich nach dem Bestellen beginnt er für jedes Gericht die Zutaten zu hacken. Frischer geht nicht. Und während er kocht, ist ihm anzusehen: Kochen ist keine Arbeit, Kochen ist seine Erfüllung. Entsprechend lange wartet man zwar auf sein Gericht. Aber das zahlt sich mehr als aus; wie sind uns einig, dass dieser Mann in Europa ein Gourmet-Koch wäre.

Die 4000 Inseln sind wirklich 4000 Inseln, mal mehr, mal weniger. Simones Lieblingssatz neben der Karte Don Khons im Reiseführer lautet: Die Insel verändert je nach Wasserstand ihre Grösse. Und auf einer dieser weltvergessenen Inseln, auf denen nach zehn Uhr Abends alles schläft, springe ich irgendwann lange nach Mitternacht in den schlammbraunen Mekong. Nachtbaden ist wunderbar. Laos war es auch!

Gleich hinter den 4000 Inseln liegt Kambodscha. Ein Wackelboot fährt uns ans Festland, ein grosser Bus bringt uns über die Grenze, ein platznotenger Minibus schaukelt und schüttelt uns durch die Nacht nach Siem Reap. Hier werden wir zu Tempelritterinnen: Zuerst mit dem Tuktuk, am zweiten Tag mit dem Rad, erobern wir Ankor Wat. Am besten gefallen uns die von der Natur zurück eroberten und überwucherten Tempel und jener mit den 170 Gesichtern. Wobei wir letzteren fluchtartig verlassen, als er von einer chinesischen Reisegruppe erstürmt wird, weil wir fürchten, von der lauten Touristenhorde verschluckt und verdaut zu werden.

Mit einem Chinesen teilen wir uns auch ein Tuktuk, um an den See zu gelangen. Warum er nicht in einer dieser Gruppen reist? Er verdreht die Augen und sagt: Chinesische Touristen sind viel viel viel zu laut.

Laut dröhnt auch der Motor unseres Bootes, das uns über See und Fluss nach Battambang bringt, weshalb ich mich aufs Dach verziehe. Es ist eine Fahrt durch ein Gebiet, in dem die Zeit vor vielen Jahren stehen geblieben ist. Die Boat-People leben auf ihren schwimmenden Häusern am Ufer des Flusses, Menschen, die weder von Laos noch von Kambodscha als Bürger akzeptiert werden, und die trotzdem da sind, immer da waren, seit Generationen schon. Sie leben in kleinen Häusern oder schäbigen Baracken auf oder am Fluss, an riesigen, stelzenartigen Holzkonstruktionen hängen grosse Fischernetze, die ihnen ihr Überleben sichern. Wie so oft in der Fremde frage ich mich, wie mein Leben wohl aussähe, wenn ich nicht ein einem Haus Eingangs des Emmentals geboren wäre – sondern zum Beispiel in einer der Hütten am Ufer dieses Flusses. Und ob es Schicksal oder Zufall ist, wo wir das Licht der Welt erblicken.

Zufall mag es sein oder auch nicht, dass ich in Phnom Penh jemandem begegne, den ich schon sehr sehr lange nicht mehr gesehen habe. Und zwar jenem Mann, der mir alles über die schweizerische Justiz beigebracht hat, wegen dem ich einst zur Gerichtsreporterin wurde und der damit wohl auch das Seine dazu beigetragen hat, dass ich heute Krimis schreibe: Ich treffe meinen früheren Arbeitskollegen und Chef – ausgerechnet – im Gefängnis: Er sitzt auf einer Bank im Hof des Prisons S21, jenem furchtbaren Ort, der mit Justiz und Rechtsstaat rein gar nichts zu tun hat, der Ort, in dem die Rote Khmer die fürchterlichsten Folterungen durchführten und Menschen teils allein darum töteten, weil sie eine Brille trugen und daher zu intellektuell aussahen. Der Besuch im in den alten Gefängnismauern eingerichteten Genozid-Museum ist bedrückend. Erschreckend auch, wie sehr sich diese Gedenkstätten gleichen. Die Schwarzweiss-Fotografien der Opfer, die gezwungen werden, in die Kamera zu blicken. Und in deren Augen hier und da der Stolz verrät, dass sie sich nicht haben brechen lassen.

Eigentlich wollte ich hier mit Schreiben mal Schluss machen, aber ich kann nicht mit einem Foltergefängnis aufhören. Ich finde, ich sollte mit einem erbaulicheren Thema den Schlusspunkt setzen. Das so in etwa lauten könnte: Wie ich meine Angst vor dem Zahnarzt überwunden habe. Nach Kambodscha geht es für mich weiter nach Bangkok, wo es wieder Hochhäuser und Schnellstrassen und, eben – Zahnärzte – gibt.

Vielleicht erinnert sich die eine oder der andere: Ich habe in Black Rock City am Burning Man ein Stück Zahn zurück gelassen. Das 250-Dollar-teure Provisorium, das mir eine Zahnärztin in Reno einpflanzte, ist bereits in Tokio wieder rausgeflogen. Und die Sache mit der temporären Zahnfüllpaste, die ich auf ihre Anweisung hin gekauft habe und die ich mir in eben diesem Fall selber in mein Zahnloch stopfen sollte, funktionierte nicht so richtig: Immer, wenn ich etwas sagte, brösmelten Körnchen der Paste aus meinem Mund heraus. Das geht natürlich gar nicht. Immerhin konnte ich die Paste dann doch noch verwenden; um meine Brille zu flicken. Auf jeden Fall habe ich in Sachen Asien und Zahnarzt ein bisschen herum recherchiert und bin zum Schluss gekommen, dass mich mein Zahn, respektive die Krone, die er braucht, zu einem Abstecher nach Thailand bewegen wird. Weil: Die Zahnärzte bieten eine gute Qualität und die Krone kostet nicht halb so viel wie in der Schweiz. Abgesehen davon lag ja Thailand auch gerade auf dem Weg.

Eine Freundin eines Freundes, die jetzt auch meine Freundin ist, hat mich spontan zu sich nach Hause in Bangkok eingeladen, wo ich mich dann auch gleich einquartieren durfte. Und mehr noch: Sie wusste sogar Abhilfe, als ich ihr erzählte, dass ich mich vor dem Zahnarzt immer ganz schrecklich fürchtete. «Ich werde dich vorher hypnotisieren», sagte Karin. «Dann wird alles gut.» Fortan war ich nicht mehr bloss wegen des Zahnarzts, sondern auch wegen der Hypnose nervös. Kurzum: Das Ergebnis der Hypnose war: Ich stelle mir vor, dass der Zahnarzt ein vertrauenswürdiger Bergführer ist, der mich sicher durch den schwierigen Aufstieg führt und mit dem ich dann voller Freude zuoberst auf dem Gipfel stehe, wenn wir es geschafft haben. Ich suche also am nächsten Morgen die Zahnklinik auf, deren Eingang jenem eines Fünfstern-Hotels gleicht – in der Überzeugung, ein kleines Bergabenteuer zu starten. Eine Vorstellung, die einen kleinen Dämpfer erfährt, als ich das Zimmer betrete: Der Zahnarzt ist eine Frau, sie so hochschwanger ist, dass ich fürchte, ihr Kind wird das Licht der Welt erblicken bevor mein Zahn behandelt ist. Soviel zum Thema: Bergführer und Gipfelsturm. Aber: Ich habe jetzt wieder einen ganzen Zahn in meiner rechten Backe. Und die Zahnärztin freut sich darauf, mich möglichst bald wieder zu sehen, damit wir den nächsten Aufstieg gemeinsam meistern können...

Kaum bin ich draussen, gönne ich mir zur Belohnung einmal Eggs Benedict und zum Dessert ein fettes Stück Schokoladekuchen. Schokoladekuchen, finde ich, ist ein grossartiges Schlusswort! Mein erfolgreicher Wetteinsatz bei einem Pferderennen, warum in Bangkoks Lumpini Park plötzlich Hunderte Jogger bockstill stehen und nur eine Joggerin weiterrennt (dreimal könnt ihr raten, um wen es sich dabei handelt) und den illegalen Ausflug in Bangkoks Ghost Tower spare ich mir fürs nächste Mal. Danke fürs Lesen.

RECENT POSTS:
SEARCH BY TAGS:
bottom of page