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Auf Hemingways Spuren


Das Leben fühlt sich wie immer gross an, wenn man auf Reisen ist. Und die Orte, die ich bislang streifte, sind vollgepfropft mit Leben. Überall ein wunderbares Gewusel von Gesichtern mit Geschichten, von Menschen, die alle Teil sind unserer Welt und doch zum Teil in einer anderen leben. Eine Stadt lässt sich manchmal auch dadurch charakterisieren, wie Fussgänger eine Strasse überqueren (ich bin immer wieder erstaunt, dass in deutschen Städten die Fussgänger vor der roten Ampel stur stehen bleiben, auch wenn weit und breit kein Auto in Sicht ist. Und in manchen deutschen Städten hat es sogar zwei rote Männchen übereinander, als ob eines nicht genügen würde!). Der New Yorker hingegen hat seine ganz eigene Taktik bei Rot über die Strasse zu gehen; beinahe in das erste Auto hineinprallen und dann durch die Lücke vor dem nächsten Wagen gleiten, die eigentlich gar keine ist, behände wie ein Schluck Wasser. In Havanna muss man das Rotlicht gar nicht erst ignorieren, weil es nämlich keines gibt, auch keine Zebrastreifen. Hier heisst es einfach: Rennen. Und in Trinidad? Da marschieren alle gleichzeitig los, der Chevrolet hupt, der Reiter im Cowboy-Hut zerrt an den Zügeln, der Mann hinter dem Pferdegespann brüllt, das Velotaxi klingelt und alle kommen irgendwie aneinander vorbei. New York hat die ganze Welt in sich verpackt. Und Tausende von Gerüche in sich eingeschlossen. Leicht metallen riecht der warme Luftschwall, der aus dem Schacht aufsteigt, um mir um die Beine zu streichen, der die unter mir hindurchbrausende U-Bahn ankündigt, lange bevor ich sie höre. Ich stehe da und stelle mir die vielen Menschen vor – Menschen aus aller Welt, eingepfercht in den gleichen U-Bahn-Zug – die gerade unter meinen Füssen durchfahren. Für meinen Taxifahrer aus Senegal ist die Stadt die Welt. Er sagt, sie ist immer voll, voller Menschen, alles ist voll, die Züge sind voll, die Busse sind voll, die Strassen sind voll. Er lacht und sagt, er liebe das, er liebe diese Stadt. Es gibt keine Stille, nicht eine Sekunde, kein Innehalten. Ich will wissen, wie er hergekommen ist, aus dem Senegal, ausgerechnet nach New York. Erst seine Antwort macht mir klar, wie blöd meine Frage klingen muss: Mit dem Flugzeug. 13 Jahre ist das her, fast 14. Warum er New York ausgewählt habe, versuche ich es andersherum. Jetzt lacht er, sagt: Genau, ich habe mir New York ausgesucht, ich hab mir das hier ausgesucht. Ich kam als Strassenkünstler, als Tänzer, mit Rhythmus, mit Trommeln, wissen Sie. In seinen Augen im Rückspiegel sehe ich Erinnerungen aufblitzen, es müssen gute sein. Ja, er sagt, es sei eine andere Welt. Das sei jetzt seine Welt. Es ist auch die Welt des alten Paares. Er kommt allein, am Stock, fragt die Bedienung zweimal, ob er sich hinsetzen könne, es komme noch eine Lady. Der Mann hat das Gesicht eines Filmschauspielers, vielleicht war er mal einer. Er muss um die 80 sein. Die alte Frau wackelt wenig später an mir vorbei, von Stoff umschlungen wie von Lumpen, lange, weisse, Hände, im ersten Augenblick meine ich, sie sei eine Bettlerin. Aber es ist seine Lady. Die Stoffe sind nicht Lumpen, sondern ein Gewand, sie trägt Hut, geht zum gealterten Schauspieler, hält inne und gibt ihm sehr langsam einen kleinen Kuss auf den Mund. Er schliesst dabei die Augen. Wie berührend diese Geste ist. Ich frage mich, ob sie mal ein Paar waren oder gar immer noch sind, oder ob es womöglich eine vertraute Affäre ist, weil bei einer Beziehungsliebe diese Zärtlichkeit vielleicht vor Jahren schon verschwunden wäre, übertüncht durch die Gewohnheit. Oder ist der kleine Kuss bloss ein Schatten einer längst vergangenen Leidenschaft? Die Begriffe „längst vergangen“ und „Leidenschaft“ passen auch nach Kuba, wo ich nach einer Nacht und einer irregeleiteten Taxifahrt in Mexico doch noch angekommen bin und immer noch ankomme und immer weiter ankommen möchte. Ich fühle vom ersten Moment an, dass ich mich in Havanna wohl fühlen werde, obwohl oder gerade weil die Stadt in einem desolaten Zustand ist. Dieser ästhetische Zerfall der Häuser, mal Paläste, mal Ostblockbauten. All diese Autos, die einen in die Kulisse eines James-Dean-Films versetzen. Und gleichzeitig erinnert mich vieles hier so sehr an Afrika, an Zanzibar, auch die Menschen, gerade die Menschen. Havanna ist eine Reizüberflutung. Alle Sinne werden pausenlos mit Eindrücken überschwemmt. Was für eine Stadt; zum einen vom Zerfall geprägt und im Schmutz erstarrt. Es riecht nie gut. Es stinkt immer nach irgendetwas. Die Augen muss man offen halten, stets achtsam sein, wohin man tritt. Überall lauern Löcher und Gruben als Fallen Dreck. Und die Hitze legt sich schon früh morgens wie eine schwere, bleierne Decke auf die Stadt. Auf der anderen Seite ist sie geprägt von solcher Lebendigkeit und Schönheit. Und voller prallen Lebens, das vor allem in der Nacht so richtig erwacht. Ich habe auf meinen Reisen Dinge gesehen, die ich immer in mir tragen werde, die nicht weggehen, Erinnerungen, die sich eingebrannt haben in meine Seele, und ich meine jetzt die, die das im guten Sinne taten. Die Eisberge von Ilullisat, von denen ich noch Jahre später träume. Der Moment, in dem ich das erste Mal über das Lavafeld von Landmannalaugar kraxelte und die sureal-bunten Berge sah. Und der Kraterrand des Ngororo, wo man sich so fühlt, wie man wirklich ist: klein und unbedeutend in dieser überwältigenden Natur. In Havanna sind es die Geräusche, die bleiben werden. Die Kinder, die um Mitternacht lachend durch die Strassen rennen, vorbei am Händler, der laut ausruft, immer wieder die gleichen Worte in der selben Melodie, weil er Gold und Zimt kaufen will. Und sein Rufen vermischt sich mit jenem des Brotverkäufers, der seine Backwaren und Mehl feilbietet. Hier spricht niemand leise, alle rufen, ständig steht einer mitten auf der Strasse und brüllt einen Namen, weil es an den Türen keine Klingeln gibt. Oder der Nachbar, der unten auf der Schwelle der Eingangstür sitzt, ruft dem Nachbarn auf dem Balkon gegenüber etwas zu, was dieser wiederum dem Nachbar auf dem Balkon vis-à-vis kund tut. Ich habe ein Buch gelesen, in dem Kubaner über «meine Strasse» schreiben, mit so viel Liebe und so viel Sehnsucht – die eigene Strasse ist hier das zu Hause. Jeder kennt sich in der Strasse, man lebt mehr draussen als drinnen, und drinnen ist auch fast draussen, denn alle Türen stehen offen, jedem sieht man direkt ins Zimmer. Und wenn jemand mal drinnen statt draussen ist, dann steht oder sitzt er bestimmt am Fenster oder auf dem Balkon. Am liebsten aber kauern die Menschen auf dem Schwelle der Haustür, das ist ein Palaver, bis in den frühen Morgen hinein. Und die Musik! Überall, an jeder Ecke, die Lieder vermischen sich zu einem Melodien-Ratatouille. Und alles zusammen zerfliesst zu einem wunderbaren Klangteppich, ein Wirrwarr aus Stimmen, Musik, Rufen und Lachen. Ein Klangteppich, der sich anhört, als stamme er aus einer vergessenen Zeit. Und ein paar Worte haben auch Ulises und Theresa verdient. Meine Gastgeber in dem alten Kolonialhaus mit Decken, so hoch, dass man sich wie in einem Palast fühlt. Theresa ist die Haushälterin und die geheime Chefin. Klein und etwas rund und immer ein wenig mürrisch blickend, aber wenn sie lacht, hat sie den Schalk in den Augen. Sie ist wie viele Frauen hier: Stark, mit festem Willen, keine, die sich einschüchtern lässt, und wehe, man unterschätzt sie! Sie wohnt oben auf dem Flachdach in einer etwa vier Quadratmeter grossen Blechhütte, darin stehen ein Bett, ein Ventilator und ein Fernseher. Und Ulises, der die vier Gästezimmer verwaltet, der längst ein Freund ist, ein Künstler, ein Schreiber, der mir von seinem Partner erzählt, ein Chinese, der hier studiert hat, sieben Jahre lang, und der dann aus seinem Leben einfach so verschwunden ist. Und nachreisen geht nicht. Weil der kubanische Reisepass seinen Namen noch immer nicht verdient: für zu Viele in diesem Land beschränkt sich das Reisen auf ihre von Wasser begrenzten eigenen kleinen Welt. Aber so sehr scheint Ulises seiner verlorenen Liebe nicht nachzutrauern; that’s live, sagt er, und zuckt mit den Schultern. Es ist das gleiche Schulterzucken, mit dem die Menschen hier sagen: Es Cuba... Dann, wenn etwas nicht funktioniert, wenn kein Bus kommt, oder wenn das, von dem man meint, es unbedingt zu brauchen, in diesem Land nicht zu haben ist. Die Busfahrt nach Trinidad dauert acht statt fünf Stunden. Am Kiosk, der gleichsam die Autobahnraststätte ist, steht eine junge Frau in weissem Krankenschwester-Dress hinter der Theke und serviert morgens um elf Pina Colada. Den Rum kann man sich selbst dazu giessen, soviel man will. Trinidad ist ganz anders. Das Zentrum ist sehr touristisch; hier zeichnet sich ab, wie das ganze Land wohl bald sein wird. Aber die Stadt ist wunderbunt und wunderbar und lebensfroh, eingebettet in stolze, dicht bewaldete Hügel, die kantiger sind als die lieblichen Wölbungen des Emmentals. Warum nur, frage ich mich hier die ganze Zeit, sind in der Schweiz alle Mauern und Wände so langweilig weiss. Auch Trinidad ist sehr aus der Zeit gefallen, mehr noch. Ein Töff ist hier Luxus, das wichtigste Transportmittel ist das Pferd. Wenn man abends durch die Gassen Trinidads streift, spielt in jedem Haus Musik und an jeder Ecke eine Band. Und dazwischen leuchten einem die Kulissen all der Leben hier entgegen: Die überhohen Türen und vergitterten Fenster stehen alle offen, jeder lässt sich in die Stube blicken, gewährt die Blicke auf das Familienleben, das hier öffentlich stattfindet. Hinter einem Fenster steht der Rollstuhl eines alten Mannes, der heraus blickt. Hinter dem anderen näht ein Mann mit einer alten Nähmaschine ein Hemd. Am nächsten Fenster sitzt eine Frau und blickt auf die genau gleiche Weise durch das Gitter wie der Hund das tut, der neben ihr sitzt, oder vielleicht auch umgekehrt, der Hund tut es seiner Herrin gleich. In der nächsten Stube steht ein Spinnrad, eine Frau schaukelt im Stuhl und hinter ihr springt im Fernseher gerade eine Athletin über eine Hürde. Und zum Schluss noch dies. An einem Abend in einem Lokal, das Yesterday heisst, in dem die Beatles in Bronze gegossen auf Empfangskomitee machen und dessen Besitzer derart angetan ist von deren Evergreens, dass jedes dritte Stück der engagierten Band ein Beatle-Song sein muss, obwohl die Sängerin die Stücke der Cranberries und der Four Non Blondes weit besser drauf hat, ab jenem Abend im Yesterday also erklärt mir Javier, schwarz, gekrauster Wuschelkopf, 35, in wenigen Worten, wie Kuba funktioniert. Diese Bierflasche ist aus braunem Glas, sagt er. Wenn jetzt aber die Regierung behauptet: Nein, diese Bierflasche ist weiss – dann ist diese Bierflasche weiss. So geht das. Ich stell jetzt doch noch ein paar Bilder dazu; im Taxi mit dem senegalesischen Taxifahrer, der gealterte Schauspieler mit seiner Lady im New Yorker Café, ein Stückchen Havanna und ein nächtlicher Einblick in Trinidad, inklusive Yesterday...

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