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Ich war noch niemals auf Hawaii


Day 79. Zwischen meinen letzten Reisegedanken und dem heutigen Tag liegt die halbe Welt. Oder eher: Sehr viel Wasser, das einen ganzen Ozean füllt. Und eine Datumsgrenze. Ich bin euch in der Zeit jetzt wieder voraus!

Gestern (gemäss dem Datum war es vorgestern, effektiv aber war es gestern, mein Kalender ist ausser Kontrolle geraten...) sass ich am Flughafen der Insel Kauai und fragte mich zum ersten Mal auf dieser Reise: Will ich wirklich in dieses Flugzeug steigen? Freiwillig einen so wunderbaren Ort verlassen, wenn ich noch gar nicht gehen müsste? Hawaii, das war: Oahu, Big Island, Maui und Kauai, vier Inseln vollgepackt mit jenen Momenten, in denen man sich ganz klein fühlt und die Natur ganz gross ist. Landschaften, die man einatmet und ein Leben lang sich trägt. Gegenden, so schön, dass einem fast das Herz stillsteht und man laut ausrufen will vor Freude. Hawaii ist sattes Grün und karges Vulkangebirge, Dschungel und endlose Weite. Ein Ort, an dem die Berge so spitz sind, als wollten sie die Wolken kitzeln. Der Ort, an dem sich alle Geräusche der Nacht zu einem bezaubernden Orchester vereinen.

Nun, ich bin dann doch eingestiegen, in das Flugzeug, das mich wegbringen sollte. Nur wenn man Vertrautgewordenes und womöglich Liebgewonnenes loslässt, hat man Herz und Hände frei für neue Erfahrungen und Begegnungen. Und hoch oben im Himmel, unter mir das Wolkenmeer (sic!), dachte ich einmal mehr: Was für ein Glück, dass wir Menschen das Fliegen erlernt haben. Es ist Tag 79 (das glaube ich zumindest, ich bin mir nicht ganz sicher, weil mir eben dieser eine Tag verloren gegangen ist), aber auf jeden Fall ist es Zeit, eine kleine Bilanz zu ziehen. Ich bin auf dieser Reise sieben Mal in ein Flugzeug gestiegen. Ich habe vier Autos, drei Velos, ein Kajak, ein Pferd und ein Motorrad inklusive Fahrer gemietet. Ich habe von Santa Cruz über Umwege nach New Orleans und dann kreuz und quer über die Inseln Hawaiis zirka 7500 Kilometer hinter dem Steuer zurückgelegt, wahrscheinlich mehr als in meiner gesamten Karriere als Pizzakurier! Ich habe mit insgesamt 13 temporären WG-Gschpändli (darunter vier Kinder) in Wohnungen, respektive Appartements gewohnt. Ich habe mir mit insgesamt fünf Personen ein Zimmer geteilt (einmal ein Zweibettzimmer mit drei (sehr anständigen) Männern und einmal mit einem mir nicht sehr vertrauten Mann, der sich die ganze Nacht lang übergeben hat, der arme Kerl). Ich habe mit zirka 1000 sehr unanständigen Ameisen ein Zelt geteilt (eine Nacht, die Spuren hinterlassen hat, nicht zuletzt, weil ich mir lange einbildete, dass ich mir nur einbilde, dass da etwas auf mir herumkrable....). Ich habe mir mit vier Personen Taxis und mit vier Personen Autos geteilt. Ich hatte vier Dates mit Online-Dating-Männern. Ich habe fünf Autostopper mitgenommen. Ich habe mich dem Burning-Man-Neuling-Ritual unterzogen und mich im Wüstenstaub von Nevada gewälzt (und mich anschliessend vollpaniert in ein Mietauto gesetzt, das zum Glück nicht ich gemietet habe).

Ich habe mich von einem anderen Hostel-Gast auf eine grosse Abschiedsparty einladen lassen, bei der sich herausstellte, dass das besagte Lokal geschlossen war und sich die Teilnehmerzahl auf ihn und seinen chinesischen Chef auf der Kartoffelplantage beschränkte, der uns dann in einem Restaurant Namens Peter Pan eine französische Crêpe bezahlt hat.

Ich habe in Honolulu auf der Terrasse des MacDonalds einen Abend mit fünf Obdachlosen verbracht und mit einem Mann, der nicht nur aussah, sondern auch klang wie Elvis.

Ich habe mindestens sieben Menschen getroffen, die neue Freunde geworden sind.

Ich habe vier ‚alte’ Freunde getroffen (wobei sich herausgestellt hat, dass eine meiner alten, junggebliebenen Freundinnen hin und wieder mit einer Plazenta im Auto hin und her fährt oder sie im Tiefkühlfach aufbewahrt, bevor sie die Plazenta einer Freundin bringt, die diese kocht!) Ich habe einen Zahn und eine Brille verloren. (Wobei ich die Brille wieder gefunden habe, als ich das Duschmittel hinter einer Kommode suchte. Den Zahn hingegen habe ich ausgespuckt, weil ich meinte, es sei ein Steinchen, das sich in das Eis meines Drinks verirrt habe. Was mich daran erinnerte, dass ich den ersten Milchzahn, den ich vor Ewigkeiten verloren habe, stundenlang im Mund behalten hatte, weil ich meinte, es sei der hartnäckige Rest eines Himbeerbonbons).

Ich habe in Reno eine Zahnärztin besucht (the best ever!).

Ich habe zum ersten Mal im Leben direkt aus einer Kühlschranktür eiskaltes Wasser und Eiswürfel in mein Glas plumpsen lassen (auf den Eiswürfeln habe ich dieses Mal aber nicht herumgekaut, manchmal lerne sogar ich aus meinen Fehlern). Ich habe zum ersten Mal in meinem Leben eine Bananenschale einfach in den Wasserabfluss im Spülbecken gestopft, wo sie verhäckselt und dem Abwasser zugeführt wurde. Ich habe ein (einziges) Museum besucht (Museum of Death).

Ich bin in Cancun mit einem Taxifahrer nach Mitternacht achtzig Minuten durchs Nirgendwo geirrt, obwohl meine Pension nur zehn Minuten vom Flughafen entfernt war. In New York habe ich gemeinsam mit einem Taxifahrer aus dem Senegal von Afrika geschwärmt. Ein Taxifahrer aus Guatemala erzählte mir in Los Angeles, dass er sich wegen seiner Flugangst seit zwei Monaten mental auf seine Reise nach Barcelona vorbereite. Und der Iranische Taxifahrer, ebenfalls in Los Angeles, berichtete von seiner Schweizreise, zwei Jahre, bevor ich geboren wurde. Ich sah einen schwarzen Polizisten, der in einem Südstaaten-Dorf, das aussah wie das Filmset von „Wer die Nachtigall stört“ (Saloons, Holzhäuschen mit Schaukelstühlen auf den Veranden...), den Verkehr zum Stillstand brachte und auf dem Fussgängerstreifen jeden einzelnen Schüler mit einem „Give-Me-Five“ begrüsste – was mir das Herz erwärmte, nach all den Geschichten von weissen Cops, die auf schwarze Menschen schossen. Ich bin zweimal mitten in der Nacht von einer Männerstimme in meinem Zimmer geweckt worden, die sich als Feueralarm herausstellte (über der Tür befand sich ein Lautsprecher...). Wonach ich mich beiderorts morgens um drei gemeinsam mit 20, respektive 40 total verschlafenen Menschen mit mehr oder weniger Gepäck zunächst in einem Nottreppenhaus und schliesslich unten auf der Strasse wiederfand, obwohl es zum Glück weit und breit keinen (anderen) Brand gab (ausser mir).

Ich habe unterwegs so seltsame Dinge gekauft wie: geschnittene Apfelschnitze mit Nutella oder temporäre Zahnfüllung mit Spachtel. Ich bin zum ersten Mal im Leben durch eine Drive-Through-Apotheke gefahren (die allerdings die besagte temporäre Zahnfüllung nicht im Angebot hatte.)

Ich habe im kleinsten Badezimmer, das ich je gesehen habe, in der kleinsten Badewanne, die ich je gesehen habe, ein Bad genommen - und staune noch immer, dass ich mich danach wieder selbst entfalten konnte. Ich bin in Honolulu seit einer gefühlten Ewigkeit wieder einmal zu zweit auf einem Velo gefahren, das keinen Gepäckträger hatte. Und heute Abend werde ich in Tokio jene Japanerin treffen, die ich vor 23 Jahren in den USA auf meiner ersten richtigen Reise kennengelernt und seither niemals wieder gesehen habe. Kurz bevor ich abgereist bin, habe ich am Letten in Zürich eine Freundin getroffen. Sie fragte mich, wie es mir gehe. Ich sagte, wunderbar, ich würde gleich auf Weltreise gehen. "Darum geht es dir gut?", fragte sie erstaunt. "Eine Weltreise, das klingt schrecklich anstrengend. Ich würde mich alles andere als gut fühlen." Natürlich mag das Reisen hin und wieder ein bisschen anstrengend sein. Aber nicht anstrengender als das Leben im Allgemeinen so ist. Und der Lohn für jenen, der sich auf den Weg macht, ist der Grösste, den man sich vorstellen kann: Der Lohn des Reisens sind wertvolle Begegnungen mit Menschen, mal ganz kurz, mal etwas länger, es sind unvergessliche Augenblicke, die sich einen Dauerparkplatz suchen in der Seele, und es ist immer wieder dieses kindliche, aufregende, erquickliche Gefühl, etwas zum ersten Mal im Leben zu sehen oder zu tun. Vielleicht ist das der Grund, warum man sich auf Reisen jünger fühlt, als man ist – selbst wenn man unterwegs zum ersten Mal altershalber einen Zahn verliert!

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